Zeichen – Bücher – Netze
Von der Keilschrift zum Binärcode
Die neue Dauerausstellung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek: Eine kurze Mediengeschichte der Menschheit
“Zeichen – Bücher – Netze: Von der Keilschrift zum Binärcode“ ist der Titel der neuen Dauerausstellung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig. Sie wird am 13. März 2012 eröffnet und ist der Auftakt zu den Feierlichkeiten der Deutschen Nationalbibliothek zu ihrem 100. Geburtstag. Mit der Schau wird zugleich der Ausstellungsbereich des im Mai 2011 eröffneten Erweiterungsbaus der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig mit Museums- und Musiklesesaal, Magazinen und Museumskabinett der Öffentlichkeit übergeben.
Die Ausstellung erzählt entlang der drei Medieninnovationen - Schrift, Buchdruck und digitale Netzwelten - eine kurze Mediengeschichte der Menschheit. Mit ca. 1000 Objekten – von Knotenschnur und Kerbholz über Bücher, Flugblätter und Druckwerkzeugen bis zu Tarnschriften, digitalem Spielzeug und künstlerischen Arbeiten zur Zukunft der Medien – spannt die Ausstellung den zeitlichen Bogen von der Frühgeschichte bis heute und regt dazu an, über die Zukunft der Medien in unserer Gesellschaft nachzudenken.
Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum ist eines der ältesten Buchmuseen der Welt und greift mit der neuen Dauerausstellung auf seine in fast 130 Jahren zusammengetragenen Sammlungen zur Schrift-, Buch- und Mediengeschichte zurück. Als nächste Ausbaustufe der Ausstellung – zugleich als Sprung des Museums in die mobile Netzwelt – wird derzeit ein ausstellungsbegleitendes Medienangebot erarbeitet.
Der Themenhorizont der neuen Dauerausstellung
Seit Jahrtausenden sammelt der Mensch das Wissen über die Welt in Schriftdokumenten. Menschheitsgeschichtlich betrachtet aber ist die Schrift eine sehr junge Errungenschaft: Über Zehntausende von Jahren lebten die Menschen allein mit dem gesprochenen Wort und dem Bild. Erst gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen in Ägypten und dem Vorderen Orient in der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends gaben die entscheidenden Impulse, die zur Entwicklung von Schrift führten. Und obwohl die Schrift aus unserem Alltagsleben – auch und gerade im Zeitalter von Internet und SMS - nicht wegzudenken ist, gibt es noch heute Kulturen, in denen Menschen ohne dieses komplexe Speicher- und Kommunikationsmittel auskommen.
Die vermeintliche Selbstverständlichkeit der Schrift zu hinterfragen und auch die Leistungen schriftloser Kulturen darzustellen, bildet den Einstieg in die Ausstellung. Von frühen Symbolen und Methoden zur Speicherung von Information bis zu den heute verwendeten Schriften werden signifikante Stationen der Schriftgeschichte anhand von archäologischen und ethnografischen Objekten vorgestellt.
Die Erfolgsgeschichte der Alphabetschrift ist das Thema des interaktiven Medienkunstwerkes „abc-Matrix“ von Boris Petrovsky: Mithilfe zweier Neonalphabete erhält der Besucher in einem entschleunigten Entzifferungsprozeß Antworten auf seine Fragen.
Mit der Entwicklung unterschiedlichster Notationssysteme hat sich eine große Bandbreite an Techniken herausgebildet, mit denen bildliche, symbolhafte und textliche Zeichen gesetzt werden können. Im Zusammenspiel von Film und Originalobjekt wird der Zusammenhang von Aufzeichnungstechnik, kulturellem Umfeld und der Absicht des Aufzeichnens nachvollziehbar. Einzelne Episoden widmen sich z. B. dem Aufzeichnen als Markierung und „Selbstbehauptung“, der Überlieferung ewiger Wahrheiten, dem Schreiben um des Schreibens willen oder der Lebensdauer von Mitteilungen.
Dass Schriften das Ergebnis von künstlerischen und typografischen Gestaltungsprozessen sind, wird in einem Alphabet der Schriftgestalten dargestellt: Lesbarkeit, formale Ausgewogenheit und künstlerischer Erfindungsgeist spielen über die Jahrhunderte hinweg ein interessantes Wechselspiel.
Das Buch als das bedeutendste historische Informationsmedium für schriftliche Zeugnisse bildete sich in der uns heute geläufigen Form im ersten Jahrhundert n.Chr. aus. Die Entwicklung des frühen Buchwesens ging einher mit einer Vielfalt an Formen - vom Leporello über das Palmblattbuch bis zum Wachstafelbuch -, die über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg zum Teil bis heute tradiert werden. Die Herausbildung des Codex als optimale Grundform des Buches tritt als nachhaltigste Umwälzung der Handschriftenzeit hervor.
Die zentrale Stellung der Kirche prägte Jahrhunderte lang das gesamte Weltverständnis – und damit Buchherstellung und –ästhetik ebenso wie die Rezeption. Ansätze einer weltlichen Buchkultur gab es seit dem 12. Jahrhundert in Europa. Neben die Klöster als Hauptzentren für Wissenspflege und Buchkunst traten Universitäten, Fürstenhöfe und die städtische Wirtschaft sowie die Verwaltung als neue Orte für Schriftverkehr und Buchherstellung. Buchbesitz und Buchwissen blieben aber weitgehend elitär - die Handschriftlichkeit erweist sich als Grenze der medialen Wirksamkeit.
Erst durch den Buchdruck mit beweglichen Lettern wird das Buch das kulturelle Leitmedium. Die komplexe und leistungsfähige Satz- und Drucktechnologie von Johannes Gutenberg markiert als bedeutendste Innovation der frühen Neuzeit einen Einschnitt in der Wirtschafts-, Kultur- und Geistesgeschichte. Ein neues Medienzeitalter beginnt. Der Buchdruck steht am Beginn der Massenfertigung gleicher Produkte und erforderte die Ausbildung von Vertriebsnetzen. Das Buch wird zur Ware für einen anonymen Markt, erhält Eingang in vielfältige Lebensbereiche und fördert den europäischen Kommunikationsprozess.
Der Buchdruck ist die technologische Basis für die Verbreitung von mündlich und handschriftlich tradiertem Wissen. Im Zusammenhang mit der Reformation übernimmt das Buch gemeinsam mit anderen Druckmedien Berichterstattung, Agitation und öffentliche Meinungsbildung. Auch für die Erkundung und wissenschaftliche Begründung der Welt ist das Buch der wichtigste Katalysator. Wissensakkumulation und Demokratisierung von Bildung waren in der frühen Neuzeit untrennbar an die typografische, druckgestützte Schriftlichkeit gebunden.
Die Erfindung des Buchdrucks und sein medienpolitischer Einsatz durch die Reformation rief das Bedürfnis nach Kontrolle über eine bis dato nicht vorstellbare Massenproduktion von Gedrucktem wach und verlieh der Zensur eine neue Dimension. Die Reformation wurde ihr entscheidender Katalysator. Die Zensurlisten der katholischen Kirche – der zwischen 1559 und 1948 erschienene Index librorum prohibitorum – sind der wohl prominenteste Versuch, den Buchmarkt systematisch zu kontrollieren. Mit Tarnschriften und Untergrundliteratur versuchen Autoren und Verleger, den Fangnetzen der Zensur zu entgehen. Steht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geschrieben, „eine Zensur findet nicht statt“, so zählt die Zensur noch heute in weiten Teilen der Welt zur täglichen Praxis ordnungspolitischer Maßnahmenkataloge.
Im 18. Jahrhundert vollzieht sich ein Mentalitätswandel im Lesen, den bereits die Zeitgenossen als „Vielleserei“ und „Lesewut“ bezeichneten. „So lange die Welt stehet, sind keine Erscheinungen so merkwürdig gewesen als in Deutschland die Romanleserey, und in Frankreich die Revolution“, konstatierte 1795 ein Buchhändler.
Lektüre blieb nicht mehr nur auf die gelehrte Welt, religiöse Erbauung oder nützliche Anwendung beschränkt, sondern entwickelte sich dank fiktionaler Literatur zum geselligen und unterhaltenden Zeitvertreib, der neue Leserschichten erfasste und eine ungeahnte Nachfrage nach Lesestoffen auslöste. Ob in Lesegesellschaften, Wohnzimmern, Leihbibliotheken oder dörflichen Wirtshäusern – das Lesen war aus öffentlichen und privaten Räumen nicht mehr wegzudenken. Von Goethes „Werther“ bis zu den heute längst vergessenen Räuber- und Ritter-geschichten in verschlissenen, schlecht gedruckten Heftchen: Lesestoffe allerorten.
Mit der gesteigerten Nachfrage nach Gedrucktem setzte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung der Buchproduktion ein. Sie durchlief mit der schrittweisen Ablösung der Handarbeit durch den Maschinenbetrieb im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf allen Ebenen eine Mechanisierung und Automatisierung. Die damit gegebene Steigerung der Produktionskapazitäten ging Hand in Hand mit der Erschließung neuer Leserschichten als Ergebnis des Alphabetisierungsschubs durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Um die Bedürfnisse dieser bildungsbeflissenen, auch an Unterhaltung interessierten Leserschichten zu befriedigen, konnten und mussten neue Buchgattungen und Publikationsformen entwickelt werden, die sich durch niedrige Preise und großzügige Bebilderung auszeichneten. Die Breite der Angebote auf diesem literarischen Massenmarkt war langfristig ohne die Professionalisierung und Spezialisierung der Literaturproduzenten nicht denkbar.
Anhand eines Alphabets der Industrialisierung - von A wie Arbeitsteilung über E wie Energie und W wie Wissenschaft bis zu Z wie Zeitung werden die komplexen Zusammenhänge der Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts in anschaulicher Weise verdeutlicht und der Zugang zur Welt des Industriezeitalters eröffnet.
Vor dem Hintergrund der industriellen Massenproduktion von Büchern bilden sich am Ende des 19. Jahrhunderts buchkünstlerische Strömungen heraus, die das Buch als komplexen Gegenstand in den Blick nehmen, der seine mediale Funktion nur dann optimal erfüllen kann, wenn der Inhalt eine angemessene Form findet. Die englische Buchkunstbewegung, die Bauhaustypografie und das Künstlerbuch bereiten dem modernen Verständnis von Buchgestaltung den Weg. Qualitätsgerechter Materialeinsatz und sachgerechter Umgang mit Schrift, Typografie, Illustration, Buchschmuck und Einband sind Maximen, die in der Gestaltung des Gebrauchsbuches bis heute nachwirken.
Welchen Einfluss Zeitereignisse und Zeitgeist, die Professionalität von Buchgestaltern sowie Verlagsstrategien und Moden auf die Gestalt des Buches nehmen, wird beispielhaft vorgestellt.
Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Massenmedien: Zeitungen, Radio, Fernsehen und schließlich das Internet prägen die Medienkommunikation moderner Gesellschaften. Das Buch befindet sich stärker denn je im Wettbewerb mit anderen Medien der Vermittlung und Aufbewahrung von Information. Der gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Kontext des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawn) bildet die erzählerische Folie für eine Zeit, die von Beschleunigung, Technisierung und Vernetzung geprägt ist. Am Beginn des 21. Jahrhunderts stehen sich ein boomender Buchmarkt und eine Welle der Digitalisierung und Virtualisierung aller Medien gegenüber.
Mit dem Eintritt des Buches in die Netzwelt entstehen virtuelle Bibliotheken, die für die Verfügbarkeit von Wissen durch das Universalmedium Internet und für einen neuen Wissensraum stehen, der vernetzt und multimedial ist. Die „virtuelle Bibliothek“ ist eine universelle Vorstellung, die alle Formen der Kommunikation und Rezeption in Bezug auf Buch und Schrift integriert und fortsetzt.
Die Zukunft der Medien wird in der Ausstellung anhand von künstlerischen Dioramen dargestellt. Prognosen aus der Zukunftsforschung, aus Literatur und Science Fiction verdichten sich zu einer „Kulturgeschichte der Zukunft“, auf die durchaus auch augenzwinkernd referiert wird.
Gestaltung
Die Gestaltung der neuen Dauerausstellung fügt sich in das verglaste Erdgeschoss des 4. Erweiterungsbaus der Architektin Gabriele Glöckler ein: Auf einer Fläche von knapp 1.000 qm bilden fünf große Vitrinenkörper eine räumliche Struktur, die an dreidimensionale kalligraphische Zeichen erinnert. Für ca. 1.000 Objekte entstehen Präsentationslösungen und eine Ausstellungsgestaltung, für die das Büro Iglhaut+von Grote, Berlin verantwortlich zeichnet, das auch die Arbeiten an Ausstellungskonzeption und Recherche unterstützt hat. In der großzügigen, abstrakt gehaltenen Ausstellungsarchitektur entfalten sich die Exponate aus der Schrift-, Buch- und Mediengeschichte. Erläuternde Dokumentationen sowie Ergänzungen und Vertiefungen der Ausstellungsinhalte in Text, Bild und Ton werden dem Besucher in einer zweiten Ausbaustufe der Ausstellung in einem webbasierten Medienkonzept angeboten werden, das derzeit erarbeitet wird. Kulturgeschichtliche Artefakte aus 5000 Jahren werden so für das heutige Publikum aufbereitet und zum Sprechen gebracht.
Als lebendiges Forum für Fragen des Medienwandels verstanden tritt das Museum mit seinen vielfältigen Angeboten (Lesesaal mit umfangreicher Fachliteratur, museumspädagogische Programme, Veranstaltungen etc.) dafür ein, dem Buch, aber auch seinen digitalen „Geschwistern“ das Publikum zu sichern und die Sensibilität für Fragen nach der Zukunft der Informationsgesellschaft zu wecken.