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Die Schrift und das Buch als Inspirationsquellen der Kreativität und des komplexen Denkens

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Festvortrag zur Eröffnung des Museums für Buch und Schrift in Leipzig am 13. März 2012
von Dr. Udo Gößwald

Der Berliner Philosoph und Soziologe Georg Simmel, dessen Hauptwerke bei Duncker und Humblot hier in Leipzig erschienen sind, hat die Gegensätzlichkeiten von Leben und Kultur in dem Bild eines Gebirgsbaches festgehalten, „dessen Ränder von felsigen Gesteinen gesäumt werden“ . „Während der Strom des Lebens unaufhaltsam dahin fließt“, so interpretiert die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann diese Metapher, „produziert die menschliche Kultur Gegenstände, die aus diesem Strom herausragen.“ Das Museum der Neuzeit hat sich vornehmlich als Institution entwickelt, um jene Gebirgsbrocken, die aus dem Leben herausragen, als Monumente zu befestigen. Dies geschieht allerdings oft um den „Preis ihrer lebensweltlichen Aktualität“ .

Zu den Monumenten der Kulturgeschichte gehört ohne Frage die Schrift und natürlich auch das Buch. Und dies auch noch in einem doppelten Sinn: Da ist einerseits das Buch oder die Schrifttafel in ihrer materiellen Existenz, aber auch natürlich der Inhalt, das geschriebene Wort, mit dem die Kulturen der Welt ihrem Wissen und ihren Gedanken eine wesentliche Form der Überlieferung gegeben haben. Die ersten Schrifttafeln wurden vor etwa 5000 Jahren in Mesopotamien aus Ton gebrannt. Durch seine hohe Beständigkeit konnte diese Form des Schriftträgers länger überdauern als Bambus, das in China verwandt wurde, oder Papyrus, der sich viel leichter zersetzt. Auf den kleinen handflächengroßen Tontafeln wurden zum Beispiel Bierrechnungen festgehalten. Mit ihnen verschafften sich die schnell wachsenden Städte im fruchtbaren Tal des Tigris, im heutigen Irak, einen buchhalterischen Überblick darüber, wie viel Bier sie an die Arbeiter ausgeschenkt hatten, die in ihren Diensten standen. Schrifttafeln dieser Art werden, wie der Direktor des British Museum, Neil McGregor, anhand eines seiner 100 Objekte der Weltgeschichte erläutert, zu einem frühen Zeugnis der Anfänge des Staatswesens. Erst wesentlich später wird diese bürokratische Form, die nur Rationen zählt, abgelöst von ersten literarischen, also emotionalen Schriftstücken. Die Buchhalter waren also vor den Dichtern da.

„Die Schrift“, so John Searle, Professor für Philosophie an der University of California, „ist von essentieller Bedeutung für das, was wir als menschliche Zivilisation bezeichnen. Sie verfügt über ein schöpferisches Potential, das möglicherweise gar nicht intendiert war (....) Die Schrift ist also keineswegs nur eine Möglichkeit, Fakten über die Vergangenheit und die Gegenwart für die Zukunft festzuhalten. Im Gegenteil, sie ist ungeheuer kreativ.“ Mit der Schrift wird erst die Möglichkeit geschaffen, komplexere Formen des Denkens wie in der Mathematik oder der Philosophie zu entwickeln. In dem buchstäblichen Umgang mit Zeichen, die sich vor unseren Augen entfalten, vollzieht sich eine dialogische Form, die jedes Schreiben und ebenso auch das Lesen begleitet.

Das Gegensatzpaar von „Fest“ und „Flüssig“, das im Bild des Gebirgsbaches festgehalten ist, hat Simmel durchaus in kulturanalytischer Perspektive verstanden. In dem Spannungsfeld von „Fest“ und „Flüssig“ konstituiert sich Kultur nämlich grundsätzlich. In der Verschränkung dieser gegenläufigen Tendenzen, so noch einmal Aleida Assmann, ist die „niemals festzustellende Bewegung kultureller Arbeit“ begründet: „kein Fertiges, das nicht wieder als unfertig, kein Abgeschlossenes, das nicht wieder als offen, kein Bestimmtes, das nicht erneut als unbekannt erscheinen könnte“ . Wir steigen niemals an derselben Stelle in den gleichen Fluss, könnten wir auch mit Heraklit sagen.

Beim Lesen von Texten, beim Betrachten von Kunstwerken oder Fotografien vollzieht sich ein andauernder Übergang vom Flüssigen zum Festen und wiederum vom Festen zum Flüssigen „im Sinne eines permanenten Offenhaltens des Horizonts“ . Dieser Horizont entfaltet sich immer wieder aufs Neue bei jeder Betrachtung, bei jedem Blick, bei jedem Perspektivwechsel, und es entsteht eine permanente Resubjektivierung, die sich dialogisch in der Auseinandersetzung mit dem Objekt vollzieht.

Diese Affinität, Attraktion oder auch Sympathie zwischen Objekt und Betrachter, die sich als Korrespondenz zwischen seiner Bedeutung und der inneren Welt des Individuums darstellt, kann sich in besonderer Weise im musealen Raum entfalten. Seine äußere Anmutung ist geradezu darauf angelegt, diese Begegnung zu ermöglichen. Kaum ein anderer Ort besitzt eine solch bewusst erzeugte Atmosphäre, um über den Blick und die körperliche Erfahrung Dinge im Raum sinnlich wahrzunehmen wie das Museum. In der Begegnung mit einem Gemälde, einer Skulptur, einem archäologischen Relikt wie zum Beispiel einer Schrifttafel oder einem besonderen Objekt der Alltagskultur, wie zum Beispiel einem alten Kinderbuch, kann sich eine innere Annäherung an die Dinge vollziehen, die außerhalb der Museumsmauern kaum stattfindet. Die Exponate, die für den Betrachter ausgestellt sind, besitzen das Potenzial, ihn zu verführen und mit ihm in einen inneren Dialog zu treten. Die Formen der Präsentation können ein Ding in einer Weise zum Leben erwecken, dass eine Brücke zum eigenen – oft verborgenen – Selbst des Betrachters entsteht.

Die Raumerfahrung im Museum, so Gottfried Korff, „gibt eine spezifische Form der Erkenntnis vor, eine Form der Welterfahrung, die leibhaftig orientiert ist und die ihren Grund in der Dreidimensionalität der Dinge hat. Diese Dreidimensionalität wiederum ist Bedingung für die suggestive Wirkungskraft von musealen Dingarrangements. Der Raum, den das dreidimensionale Ding fordert, erlaubt die Wahrnehmung in Bewegung. Der Körper des Dings, das Es tritt in Dialog mit dem Körper des erkennenden Subjekts, dem Ich.“ Korff sieht eine Entsprechung zwischen dem Exponat als „einem körperhaft vorhandenen Gegenstand“ und dem Betrachter als „einem körperlich gegenwärtigen Sinneswesen“. Diese explizit ausgeführte enge Korrelation zwischen Objekt und Betrachter bezogen auf ihre Körperlichkeit und die Verwendung der Begriffe Ich und Es, die auch auf die Psychoanalyse verweisen, machen deutlich, obwohl Korff dies nicht weiter ausführt, dass der Dialog dieser Pole durch eine spezifische Korrespondenz zwischen Menschen und Dingen vermittelt wird.

Das Museum ist der Ort, so meine These, an dem wir Dingen, die als Übergangsobjekte fungiert haben, in anderer Gestalt und in einer neuen, dem Lebensverlauf entsprechenden Perspektive begegnen. Es konfrontiert uns mit Dingen, die im doppelten Sinn individuelle und kollektive Erfahrungen repräsentieren und erschließt uns damit zugleich verschiedene Dimensionen des Gedächtnisses als individuelle, soziale und kulturell vermittelte Erinnerungen. Das Museum kann so als Erfahrungsraum fungieren, in dem die innere Welt des Individuums mit einer dinglichen Außenwelt vermittelt wird.

Nun ist das traditionelle kulturgeschichtliche Museum im Wesentlichen an Platons Vorschlag orientiert, einzelne Objekte lediglich nach ihrer jeweiligen Art und nach der Differenz von anderen Arten zu klassifizieren. Damit wird die Erfahrung des einzelnen Objekts beiseite gelassen und seine Besonderheit damit nicht mehr fassbar. Das einzelne Objekt geht im musealen Klassifizierungswahn unter und wird seiner spezifischen Eigenheit beraubt. Durch diese Form der Inventarisierung im kulturgeschichtlichen Museum wird der Gehalt des Tradierten gegen die Erfahrung der Menschen abgedichtet. Die historischen Phänomene werden durch diesen Vorgang unnahbar. Dadurch geht das Bewusstsein verloren, so Walter Benjamin, dass die Kulturgüter „nicht ihr Entstehen allein, sondern auch ihre Überlieferung einer dauernden gesellschaftlichen Arbeit verdanken, in der zudem diese Güter selbst verarbeitet, nämlich verändert werden“ . Zu Recht fragt Walter Benjamin, „was ist das ganze Bildungsgut wert, wenn uns nicht eben Erfahrung mit ihm verbindet?“

Die Integration der subjektiven Bedeutung von Dingen in die Sammlungs- und Ausstellungspraxis eines Museums ermöglicht die Wiederaneignung der Erfahrungskategorie im Sinne einer permanenten Reflexion des Individuums. Entscheidend für das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen, so Walter Benjamin, ist die Erzählung. Die Schrift, der Text oder das Narrative, das mit einem Gegenstand verbunden ist, stellt die zentrale Brücke dar, um ihn lebendig werden zu lassen. Ohne den Rezipienten kann dieser Vorgang jedoch gar nicht vonstatten gehen. Darauf verweist Umberto Eco in seinen Schriften und Harald Welzer führt dazu aus, „dass Texte grundsätzlich unvollständig sind und die Mitarbeit des Lesers (oder Zuhörers) voraussetzen.“ Der Leser „entnimmt nämlich dem Text nicht nur das, was er sagt, sondern auch das, was er nicht sagt, und seine Mitarbeit besteht darin, die Leerräume des Textes aufzufüllen.“

Die Dinge entfalten ihre suggestive Kraft erst durch ihren Betrachter, durch die Vermittlung von sprachlichen Überlieferungen, die mit ihnen verbunden sind oder durch das Entstehen einer eigenen Erzählung, die im Betrachter als Produkt seines Erinnerungsvermögens oder seiner Fantasie entsteht. Die Dinge sind Vorboten eines offenen Horizonts. Sie verkörpern das Lebensprinzip des Werdens und Vergehens, indem sich Zeiträume wie in einer Erzählung ineinander verschränken und zu Erfahrungen verdichten. Die Erzählung, so Benjamin, senkt sich in das „Leben des Berichtenden ein, um es als Erfahrung den Hörern mitzugeben“ . Sie ist im Gegensatz zur Information, die sich im Augenblick verbraucht, „noch lange Zeit der Entfaltung fähig“ . Damit öffnet die Erzählung eine Art „Hohlraum“, in dem sich die Erfahrungen des Berichtenden mit denen des Rezipienten verbinden und dadurch weiterentwickelt werden können. Die Erzählung hat einen aktivierenden Charakter und entfaltet die imaginativ-konstruktive Aktivität des Zuhörenden: „Es ist ihm freigestellt, sich die Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht“ und sie „seiner eigenen Erfahrung (anzu)bilden“ , so noch einmal Walter Benjamin.

Das Museum, so Walter Grasskamp, ist ein „Ort der heiteren Melancholie“ , ein Ort, an dem das sonst Verlorene in sinnlicher Gestalt gegenwärtig ist. Diese Vergegenwärtigung erfolgt in einem Museum durch spezifische Formen der Präsentation, die durch verschiedene Ausstellungsarchitekturen dem Besucher die Dinge möglichst sinnfällig machen möchte. Das französische Wort présenter enthält noch die doppelte Bedeutung von präsentieren und vergegenwärtigen, die uns bei dem deutschen Begriff präsentieren längst nicht mehr ohne weiteres bewusst ist. An dieser Stelle ist das Museum auf das engste mit seinem Publikum verbunden, da es einerseits die Bedeutung der Dinge für seine Besucher entschlüsselt und andererseits durch seine Besucher über die Bedeutungen von Dingen etwas erfährt. Ein offenes Museum, wie ich es verstehe, befindet sich in einem permanenten Dialog mit seinen Besuchern. Es ermöglicht ihnen auf vielfältige Weise, an der Produktion von Wissen mitzuwirken und damit unmittelbar teilzuhaben an der Interpretation von Geschichte und Gegenwart.

Wie dieser Wissensdialog organisiert werden kann, ist eine der zentralen Fragen für Museen in der Zukunft. Denn es reicht nicht, die Monumente vergangener Zeiten zu
befestigen, sondern es geht um eine Verflüssigung des kulturellen Erbes hin zu einer Unmittelbarkeit, die seine Korrespondenz im Subjekt des Hier und Jetzt findet und seine Energie in die Zukunft trägt. Es geht um ein Verständnis des Museums, dass den Besucher in seinen Interessen, Empfindungen und unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen ernst nimmt. Das geschichtlich Gewordene wird somit unmittelbar mit dem Seinszustand des Heute in Verbindung gebracht, aus seiner Verfestigung herausgelöst und damit wieder lebendig gemacht. Es geht um die Vermittlung des Anteils, den der Leser, der Betrachter, der Hörende als Museumsbesucher in den sinnlichen Dialog mit dem Gegenstand selber einbringt. Das Museum kann einen Raum entfalten, in dem in den Dingen das Konkrete zur Anschauung gelangt. Somit vermag es beide Pole der Kultur, ihre flüssigen wie festen Aggregatzustände, in eine Art Schwebezustand zu versetzen. Es eröffnet die Möglichkeit, den Dingen mit eigenen Empfindungen zu begegnen und eine „lebendige Reflexion“ , so ein Begriff von Novalis, vorzunehmen.

Der Historiker und bedeutende Geschichtstheoretiker Reinhard Kosselek hat die Kategorien Erfahrungsraum und Erwartungshorizont in die Geschichtsbetrachtung eingeführt und meines Erachtens zu Recht behauptet, dass es keine Geschichte gibt, „ohne dass sie durch Erfahrungen und Erwartungen der handelnden oder leidenden Menschen konstituiert worden wäre“ . Die komplexe Dialektik von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont bestimmt unsere Interpretation von Geschichte und Gegenwart unmittelbar und es wird daraus deutlich, wie zeitgebunden sie ist. Zu einer dialogischen, lebendigen Reflexion gehört auch die Erkenntnis, dass sich die Bedeutung der Dinge im Lauf der Zeit wandelt. Das Museum muss sich dessen bewusst sein, dass die Dinge ihren einstigen „Glanz“ verlieren und wie in Milan Kunderas Roman „Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ eine andere Gestalt annehmen können. Das dynamische Element der Zeit spielt die Hauptrolle in diesem wundervollen Roman, eine wichtige Nebenrolle ein schwarzer Bowler. Für Sabina, die Geliebte des Protagonisten Tomas, ist dieser schwarze Bowler aufgeladen mit einer Vielzahl persönlicher Bedeutungen, die sich im Laufe der Zeit wandeln, wie es Peter Wollen in seinem schönen Artikel „Margritte und die Melone. Oder die Kunst, viele Bedeutungen unter einem Hut zu versammeln“ beschrieben hat:

„Erstens dient er (der Bowler d. Verf.) als vage Erinnerung an ihren vergessenen Großvater, den Bürgermeister einer kleinen böhmischen Stadt im 19. Jahrhundert. Zweitens stellt er ein Memento für ihren Vater dar. Nach dem Begräbnis übernahm ihr Bruder den gesamten Familienbesitz, worauf Sabina, zu stolz und verächtlich, um für ihr Recht zu kämpfen, sarkastisch verkündete, sie habe sich die Melone als einzige Erbschaft einbehalten. Drittens ist er eine Requisite bei ihren Liebesspielen mit Tomas. Viertens ist er ein Zeichen der Originalität, die sie bewusst kultiviert. Als sie das Land verließ, konnte sie nicht viel mitnehmen, und für diesen unförmigen, unpraktischen Gegenstand musste sie andere praktischere Dinge zurücklassen. Fünftens ist er später, wenn sie im Ausland lebt, ein sentimental aufgeladenes Objekt. Als sie Tomas in Zürich besucht, nimmt sie den Hut mit und hat ihn auf dem Kopf, als sie die Tür ihres Hotelzimmers öffnet. Dann allerdings passiert etwas, mit dem sie nicht gerechnet hat: Der Hut, jetzt nicht mehr unbeschwert oder sexy, ist zu einem Monument vergangener Zeiten geworden.“

Das ehedem Leichte des Hutes hat sich in ein Schweres verwandelt. So hat der Lauf des Lebens den Dingen eine andere Bedeutung verliehen. Die Vergänglichkeit und die Erfahrung des Gewordenseins ist in vielen literarischen Zeugnissen lebendig und in einem sehr konkreten Sinn in den Büchern präsent, die wir „für uns“ reklamiert und zu Wegbegleitern unseres Lebens geformt haben. Wie beschreiben wir die Momente, wenn uns ein Buch auf sonderbare Weise berührt, wenn wir mit ihm, wie Walter Benjamin schreibt, „auf einem Zauberteppich unterwegs ins Zelt des letzten Mohikaners“ sind? Was passiert mit uns, wenn wir in Umberto Ecos Roman „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“ mit dem Ich-Erzähler, der sein Gedächtnis verloren hat, auf dem Dachboden des Elternhauses sitzen, in alten Comics blättern und in die Zeit seiner Kindheit zurückblicken? Welche Bücher oder Hefte besitzen Sie, die Ihnen ans Herz gewachsen sind? Welche Bücher nehmen Sie immer wieder in die Hand und blättern in den Seiten, die Sie schon drei, vier, fünfmal gelesen haben? Manche Bücher haben eine Schlüsselfunktion in unserem Leben. In ihnen sind geheimste Wünsche verborgen, die uns das ganze Leben begleiten; vielleicht das Profil einer Frau, vielleicht der Charakter eines Jungen, mit dem Sie sich identifiziert haben. Bei mir war es Agba, der taubstumme marokkanische Stallbursche, der mich in seiner Liebe und Treue zu seinem Rennpferd tief berührt hat. Heute steht das Buch „ König des Windes“ von Marguerite Henry aufgeschlagen in meinem Regal und ist zu einer der Reliquien in meinem privaten Museum geworden.

Für eine Ausstellung mit dem Titel „Drei Dinge meines Lebens“, die 2011 in unserem Museum, dem Museum Neukölln in Berlin, stattfand, haben wir Menschen nach den drei Dingen gefragt, die für sie in ihrem Leben am bedeutsamsten sind. Von den neun Protagonisten, die bereit waren, uns Dinge für die Ausstellung zu leihen, haben drei ein Buch gewählt. Unter ihnen ist das Buch „Europäer“, ein Fotoband des berühmten französischen Fotografen Henri Cartier-Bresson. Ausgewählt hat es die Fotografin Loredana Nemes, die ihr Atelier in unserem Bezirk hat und auch schon im Museum Neukölln ausgestellt hat. Welche Bedeutung dieses Buch für ihren beruflichen und intellektuellen Werdegang hat, beschreibt sie in einem Interview, das Sie auf einem iPad in der Ausstellung sehen können, folgendermaßen:
„Ich habe es aufgeschlagen und gedacht, mich trifft der Schlag. Diese Bilder, diese Fülle, es ist ja ein Lebenswerk. Die Reifung eines Menschen, sein Umgang mit der Kamera, die Reifung eines Fotografen über vierzig, fünfzig Jahre. Die Reifung eines Kontinents, eine Annäherung an politische, religiöse, wirtschaftliche, menschliche und persönliche Themen. Architektur, Länder, Kulturen, Regionen, ihre spezifischen Hinterlassenschaften und Merkmale (…) Später liest man dann Geschichten zu den einzelnen Bildern, wie zu dem Bild ‚Pont de l’Europe’. Diesen Platz, auf dem der Mann über eine Wasserlache springt, hat er nur durch einen Spalt sehen können. Aber er hat es geschafft, diese Aufnahme zu machen, obwohl er den Moment nicht sehen, sondern nur fühlen konnte. Eine Sekunde später und es gäbe diese Aufnahme nicht. Da würde der Mann das Wasser berühren, das Wasser würde Wellen schlagen und die Spiegelung brechen. Da wurde mir klar, dass es genau dieser Moment ist, in dem Fotografie etwas einfängt, was nie wieder so da sein wird. Der richtige Augenblick, die richtige Komposition, das richtige Licht – das Fühlen von innen, statt alles zu wissen und exakt zu planen.“

Dieses Beispiel verdeutlich noch einmal die schöpferische Dimension, die durch das Buch, durch Texte und Bilder entfaltet werden kann und in welcher Weise Monumente der Fotogeschichte - in diesem Fall die Bilder von Henri Cartier-Bresson - zu Ausgangspunkten für das eigene kreative Schaffen werden können. Alle diese Dimensionen können auf vorzügliche Art und Weise in einem Museum entschlüsselt und vermittelt werden. Sie, meine Damen und Herren, haben es in der Hand, beim Gang durch diese Ausstellung zur Geschichte von zwei der bedeutendsten Erfindungen der Menschheit die Leerstellen und Hohlräume mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen zu füllen, die ein guter Text oder eine gute Ausstellung hinterlassen. Vielleicht haben Sie ja auch noch eine Bierrechnung, mit der Sie die Sammlung von Schriftzeugnissen des Museums bereichern können. Ich bin überzeugt, dass die Autorinnen und Autoren, die Gestalterinnen und Gestalter und alle Mitwirkenden an diesem Projekt alles unternommen haben, um für Sie das Erleben dieser Präsentation zu einem besonderen Ereignis werden zu lassen. Ich weiß um die gewaltige kollektive Anstrengung, die der Produktion dieser Art von ästhetischen Werken zu Grunde liegt. Viel Erfolg damit wünsche ich Ihnen.

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